Über 80% der Todesfälle bei Nichtrauchern über 50 lassen sich in vier Hauptkategorien einteilen:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Stoffwechselerkrankungen
- Neurodegenerative Erkrankungen
- Krebs
Zusätzlich spielt Gebrechlichkeit eine entscheidende Rolle, wie wir in Kapitel 5 lernen werden.
Diese Erkrankungen decken die Hauptursachen für vorzeitigen Tod ab und stehen oft in direktem Zusammenhang mit vermeidbaren Risikofaktoren wie Ernährung, Bewegung, Stress und Schlaf. Aber dazu mehr im Detail hier:
1. Woran sterben wir? Ein Überblick
Der Fürst der Mathematiker, wie Gauss von vielen seiner Kollegen genannt wurde, war extrem vielseitig und beschäftigte viel mit mathematischen, aber auch astronomischen Hypothesen und deren Nachweis. Aber eine Hypothese blieb für ihn eben nur eine These, solang sie nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte. Glaube allein reichte ihm nicht, der gehörte in die Kirche, nicht in die Wissenschaft. Und so kam es zu diesem Satz, mit dem er vor etwa 200 Jahren zum Ausdruck bringen wollte, dass eine Hypothese vielleicht schon zu den gewünschten oder vermuteten Resultaten führt, bevor man die zugrunde liegenden Mechanismen im Detail verstanden hat und der Schlüssel zum kausalen Verständnis nicht selten darin liegt, im Detail zu begreifen, wie die Resultate zustande kamen.
Ähnliche Gedanken könnten uns bei der Betrachtung der häufigsten Todesursachen kommen, die regelmäßig vom statistischen Bundesamt veröffentlicht werden. Wir wollen uns nun mit der Frage beschäftigen, woran wir (bisher) sterben und wie wir es vermeiden können, um auf dem Weg zur Langlebigkeit einen gehörigen Schritt weiterzukommen.
Betrachten wir die Zahlen des statistischen Bundesamtes genauer, lernen wir, dass 2022 über 40 Prozent der Verstorbenen bei ihrem Tod über 85 Jahre alt waren und das durchschnittliche Sterbealter bei 79,67 Jahren lag. Erfreulicherweise hat sich im Laufe der letzten 50 Jahre das durchschnittliche Sterbealter um gut 10 Jahre erhöht, ist in den letzten Jahren aber relativ konstant. Die Sterberate beträgt 12,7 pro 1000 Einwohner. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit diesen Zahlen nur im Mittelfeld, so dass also (sowieso) noch viel Luft nach oben besteht. Wir interessieren uns aber ganz im Sinne von Carl Friedrich Gauss für die Details der Todesursachen, um diese gezielt angehen zu können.
Aus der Sterbestatistik des Statistischen Bundesamtes geht auch hervor, dass im Jahr 2022 insgesamt etwas über 1.000.000 Menschen verstorben sind, davon ca. 358.000 Menschen an Krankheiten des Kreislaufsystems (=33,6% aller Todesfälle) und ca. 240.000 Menschen an Krebserkrankungen (=21,7% aller Todesfälle). Auf Platz drei und vier folgen 68.000 Menschen (=6,4%) die durch psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen sowie 67.000 Menschen (=6,3%) die an Krankheiten des Atemsystems verstarben. Über 50 % aller Todesfälle werden somit ausschließlich durch Kreislauf- und Krebserkrankungen verursacht, Details sehen Sie auf Abbildung 1.
Abb. 1: Verteilung der häufigsten Todesursachen in Deutschland im Jahr 2022. Quelle: Statistisches Bundesamt 2024
Nur um diese Zahlen noch in einen Bezug zu anderen Todesarten zu setzen, die hier unter ‚Sonstige‘ fallen: Im Jahr 2022 starben ausserdem 13.000 Menschen durch Stürze, 11.000 durch Suizide, knapp 4000 durch Autounfälle und ca. 1500 durch harte Drogen. Ob die Einteilung der Todesursachen, so wie sie das Statistische Bundesamt seit Jahrzehnten vornimmt noch zeitgemäß ist und die zugrundeliegenden Mechanismen daraus gut zu erkennen sind, sei mal dahingestellt. Wir werden uns daher in diesem Kapitel mit den klinisch wichtigsten Todesursachen befaßen, die wir gut beeinflussen können: Herz-Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Erkrankungen des Nervensystems wie Demenzen sowie der Gebrechlichkeit bzw. zunehmender Immobilität. Letztere sind zwar nicht keine direkten Todesursachen, aber Ausgang vieler sekundärer Todesfolgen wie Lungenentzündungen, Lungenembolien, Stürzen mit Schenkelhalsfrakturen, Urogenitalinfekten und vielem mehr, was in der Statistik allerdings auf viele Bereiche verteilt ist. Der gemeinsame Ursprung, dieser sekundären Todesursachen ist dadurch allerdings schwer zu erkennen und erschwert auch erfolgreiche präventive Massnahmen.
Wenn wir also Kreislauferkrankungen und Krebserkrankungen komplett in den Griff bekämen, würden wir möglicherweise ewig leben? Nicht unbedingt, denn es gibt offensichtlich noch viele andere Erkrankungen und gesundheitliche Störungen, an denen man versterben kann. Aber wenn Krankheiten aus diesen beiden Gruppen vermieden werden könnten, würde sich die Lebenserwartung bereits signifikant um 10-20 Jahre – und jetzt kommt das wichtige – bei guter Lebensqualität verlängern. Das entspricht auch den Untersuchungsergebnissen, die wir in Kapitel IV.2. besprechen (Buch: Longevity-Kompass). Hier waren 94 Menschen im Alter zwischen 100-115 Jahren untersucht worden. Es hatte sich gezeigt, dass die sog. Methylierungs-Signaturen im Epigenom so verteilt sind, dass diese Menschen insbesondere vor Herzkreislauferkrankungen und Krebserkrankungen geschützt sind (Komaki et al. 2023). Aber was verbirgt sich genau hinter all diesen Erkrankungen und wie kann man sich wirksam davor schützen? Dazu schauen wir uns zunächst die einzelnen Erkrankungen genauer an:
2. Herz- Kreislauferkrankungen
Zu den wichtigsten Herzkreislauferkrankungen gehören :
- die Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck)
- Herzrhythmusstörungen (v.a. das sog. Vorhofflimmern)
- die Koronare Herzkrankheit(KHK)
- der Herzinfarkt
- der Schlaganfall
- Arteriosklerose mit der periphere arterielle Verschlusskrankheit(pAVK) und anderen Gefäßverengungen – Verschlüssen (z.B. der Halsgefäße)
Seltener:
- die Endokarditis (Entzündung der Herzinnenhaut)
- die Herzmuskel – oder Herzbeutelentzündungen (Myokarditis, Perikarditis),
- die Herzklappenfehler
Wenn wir ehrlich sind, stellen die heutigen Herz-Kreislauferkrankungen im wesentlichen Zivilisationserkrankungen dar, die je nach genetischer Veranlagung und Lebensweise früher oder später auftreten. Der Zeitpunkt des Auftretens wird im wesentlichen von wenigen vaskulären Risikofaktoren bestimmt, die fast alle beeinflussbar sind. Je mehr von diesen Faktoren vorliegen und je länger sie vorliegen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Herz-Kreislauferkrankungen in naher Zukunft auftreten. Zu den beinflussbaren Risikofaktoren gehören:
- Unbehandelter Bluthochdruck
- Übergewicht (Adipositas)
- Bewegungsmangel
- Erhöhter Cholesterin- und Triglycerinspiegel
- Diabetes Typ II
- Übermäßiger Alkoholkonsum
- Rauchen
All diese Faktoren sind beeinflussbar. Die gute Nachricht: selbst wenn ich über Jahre diese Risikofaktoren aufweise, bessert sich mein Zustand wieder wenn ich den Risikofaktor ausschalte oder zumindest reduziere. Für eine Reduktion der Risikofaktoren ist es also nie zu spät.
Bluthochdruck
Bluthochdruck ist der wahrscheinlich häufigste vaskuläre Risikofaktor für die Entwicklung vieler Erkrankungen, wie Herzinfarkten, Schlaganfällen, dementiellen Syndromen, um nur einige zu nennen. Nach den Zahlen der Deutschen Hochdruckliga leiden rund 30 % der Frauen und sogar 32 % aller Männer in Deutschland an einem Bluthochdruck. Die Wahrscheinlichkeit einen Bluthochdruck zu entwickeln, nimmt mit dem Alter zu, tritt jedoch je nach Konstellation weiterer Risikofaktor auch früher im Leben auf. Dabei spielen vor allem Übergewicht und Bewegungsmangel eine entscheidende Rolle. Das besondere Problem des Bluthochdrucks ist aber, dass er zunächst keine Schmerzen verursacht und daher für viele Patienten unentdeckt bleibt. Statistisch gesehen sind 75 % aller Betroffenen im Alter über 70 Jahre. Gut belegt ist, dass etwa 30 % der Betroffenen nichts von ihrer Erkrankung wissen. Allerdings lässt sich ein Großteil von fast 90 %, die von einem Bluthochdruck Kenntnis haben, laut einer Umfrage der Deutschen Hochdruckliga dann auch behandeln.
Interessanterweise sind weltweit fast alle Länder der Welt ähnlich stark betroffen. Retrospektiv kann allerdings festgestellt werden, dass Aufklärungskampagnen und Präventionsprogramme in den letzten 20 Jahren zu einer deutlich verbesserten Therapie der arteriellen Hypertonie in den westlichen Ländern beigetragen haben. So sehen wir in Deutschland trotz Zunahme von Schlaganfällen aufgrund des demographischen Wandels eine Abnahme von Gehirnblutungen (sog. intracerebrale und subarachnoidale Blutungen), die meist mit deutlich zu hohen Blutdruckwerten im Zusammenhang stehen. Es bleibt aber noch viel Luft nach oben, denn selbst in den westlichen Ländern sind etwa ein Drittel aller Betroffenen nicht oder nicht ausreichend behandelt, womit weitere Sekundärschäden wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle begünstigt werden.
Da es heute viele Möglichkeiten gibt Bluthochdruck wirksam zu behandeln (durch nicht medikamentöse Verfahren wie körperliche Bewegung), wie auch medikamentöse Verfahren, ist der Risikofaktor Bluthochdruck sehr gut behandelbar. Wichtig ist daher ihn rechtzeitig zu erkennen und bereits ab einem Alter von 45-50 Jahren regelmäßig seinen Blutdruck zu messen, um rechtzeitig einen sich entwickelnden Bluthochdruck zu erkennen und behandeln zu können. Wichtige Tipps wie man einen hohen Blutdruck vermeidet geben wir in Kapitel VI.7 (Präventive Massnahmen, Buch: Longevity-Kompass).
- Regelmäßiges Messen des Blutdrucks ab einem Alter von 45-50
- Übergewicht vermeiden
- Gesunde, abwechslungsreiche Nahrung, nicht zu salzhaltig, gesättigte Fettsäuren vermeiden, Zucker und gesüßte Getränke vermeiden,
- Regelmäßig körperliche Bewegung
- Nicht Rauchen
- Entspannungsphasen einhalten
- Ausreichend Schlafen
Übergewicht (Adipositas) und Diabetes vom Typ II
In Deutschland sind bereits 50% der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig, davon gut 20% fettleibig (Body-Mass-Index, BMI > 30). Die Ursache hierfür ist natürlich eine falsche und / oder zu umfangreiche Ernährung oft in Kombination mit Bewegungsmangel. Theoretisch kann man eigentlich soviel Essen wie man will, aber man muss dann die aufgenommenen Kalorien auch wieder verbrennen. Ganz grob kann man sich merken, dass Frauen am Tag ohne Sport ca. 2000 Kilokalorien (kcal) und Männer ca. 2500kcal verbrennen. Dabei gibt es individuelle Unterschiede, je nach Gewicht und körperlicher Betätigung. Ein 30-minütiger Spaziergang verbraucht ca. 120 kcal, 5km Joggen verbrauchen bereits 400kcal, und schnelles Joggen kann auch 600kcal verbrauchen. Umgekehrt enthält schon ein halber Liter Bier (also 0,5l) ca. 220 kcal. Zum Abbau der Kalorienmenge von einem Liter Bier müsse man also ca. 5km Joggen oder 1h Spazierengehen. Wenn ich aber einen Marathon laufe (41,6 km) darf ich beruhigt weitere 3000kcal zu mir nehmen. Die Beispiele zeigen, wie schnell wir durch Bewegungsmangel in eine positive Kalorien-Bilanz rutschen. Und nicht verbrauchte Kalorien speichert der Körper als Fettezellen ab weil auch schlechte Zeiten kommen könnten, die aber nicht kommen.
Übergewicht ist nicht nur ein wichtiger Faktor zur Entwicklung eines Bluthochdrucks, sondern auch für die Entwicklung eines Diabetes Typ 2. Grundsätzlich werden zwei Formen des Diabetes unterschieden. Der Diabetes Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, tritt oft früh im Leben auf und wird von der Art des Lebensstils und der Nahrung nicht beeinflusst. Bei dieser Form werden durch einen immunologischen Prozess alle Insulin-produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört, so dass der Patient lebenslang Insulin zuführen muss. Wie auch bei anderen Autoimmunerkrankungen wird auch der Typ1-Diabetes durch bestimmte genetische Konstellationen begünstigt, kann aber theoretische jeden treffen, auch wenn man sehr gesund lebt. Anders der Diabetes Typ 2, der zwar auch eine genetische Komponente hat, bei dem es aber durch länger bestehendes Überangebot von Kohlehydraten, Stärke oder Zucker zu einer Dauerausschüttung an Insulin kommt, die zu einer sog. Insulinresistenz von Zellen führt. Als direkte Folge wird ein geringerer Teil des Nahrungsangebots komplett verstoffwechselt und vermehrt als Fett abgelagert, wodurch sekundär noch mehr Übergewicht entsteht. Bei Bewegungsmangel wird dieser Prozeß weiter beschleunigt.
Der Typ 2-Diabetes wurde früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, weil er vor allem bei älteren Menschen zu finden war. Heute ist diese Form des Diabetes aufgrund des weitverbreiteten Übergewichts zur Volkskrankheit geworden und das nicht nur bei alten Menschen. Zunehmend sehen wir auch junge Menschen und vereinzelt bereits Jugendliche mit einem Typ 2 –Diabetes, so dass der Begriff des Altersdiabetes kaum noch verwendet wird. Nicht selten geraten Menschen also durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel in einen Teufelskreis der kardio-vaskulären Risikofaktoren.
- Falsche Ernährung
- Übergewicht
- Bewegungsmangel
- Bluthochdruck
- DM II
- Fettstoffwechsel
Der unbehandelte Diabetes sorgt wiederum für einen hohen Insulinspiegel im Blut, der dem Gehirn permanent auch noch ein leichtes Hungergefühl vermittelt, was die unkontrollierte Nahrungsmittelzufuhr auch noch weiter fördert. Vor allem aber schädigt ein dauerhaft hoher Insulin-Spiegel die Blutgefäße und sorgt für schnellere Ablagerungen im Bereich der Gefäßinnenseite, was diese wiederum starrer macht, damit sekundär den Blutdruck erhöht und die Durchblutung von Organen verschlechtert. Dieser Prozess an den Blutgefäßen wird Arteriosklerose genannt und ist die Ursache für die koronare Herzerkrankung (Verengung der Herzkranzgefäße) oder auch der sog. peripheren Verschluß-Krankheit (pAVK), bei der die Extremitäten nicht mehr richtig durchblutet werden.
Ähnlich wie Übergewicht ist damit auch der Diabetes vom Typ 2 gut vermeidbar. Viele Patienten mit bereits vorhandenem Typ 2 Diabetes können diesen sogar wieder verlieren, wenn sie an Gewicht abnehmen und Sport treiben. Der Typ zwei Diabetes ist damit eine typische gut vermeidbare Zivilisationserkrankung. An dieser Stelle wäre es sicherlich sinnvoll über wesentliche Elemente einer gesunden Ernährung zu sprechen. In Kapitel VI.2 (Buch: Longevity-Kompass) kommen wir jedoch noch im Detail auf Ernährung zu sprechen und geben dort auch Tipps, wie man mit gesunder Ernährung nicht nur viel für seine Langlebigkeit tut sondern auch noch lecker essen kann.
Zusammenfassend können wir hier jedoch festhalten, dass Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes Typ II, Fettstoffwechselstörungen – auch wenn es einfacher klingt als es in der Realität oft umzusetzen ist - vermieden werden können und sollten. Elementar ist hier das richtige Verhältnis von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch. Dabei kann an beiden Seiten dieses Verhältnisses gedreht werden: Vermeidung von übermäßiger Kalorienzufuhr durch abwechslungsreiche, gemischte, Kohlehydraten bewusste, ballaststoffreiche Kost und auf der anderen Seite ausreichende regelmäßige Bewegung, die erhöht werden muss wenn auch die Kalorienzufuhr aus welchen Gründen auch immer erhöht wurde. Dies vermindert gleichzeitig das Risiko für einen Diabetes Typ 2 und Fettstoffwechselstörungen.
Herzinfarkte und Schlaganfälle: traurige Endstrecke vaskulärer Risikofaktoren
Die Überschrift dieses Kapitels lautet: woran wir sterben – Volkskrankheiten besiegen. Wir haben eben die wichtigsten vaskulären Risikofaktoren besprochen, die fast alle vermeidbar, in jedem Fall aber modifizierbar sind. Aber natürlich sterben wir nicht direkt an den Risikofaktoren, sondern an den Erkrankungen, die sie verursachen. Woran wir aber direkt versterben, sind Herzinfarkte, Herzrhythmusstörungen und Schlaganfälle. Von den 358.000 Toten durch Herz-Kreislauferkrankungen, starben immerhin ca. 120.000 an ischämischen Herzerkrankungen (=Durchblutungsstörung des Herzens), insbesondere an der koronaren Herzerkrankung und davon rund 45.000 durch akute Myokard-Infarkte. Hierbei war wiederum die Zahl der Männer (27.000) deutlich höher als die Zahl der Frauen (18.000).
Interessanterweise hat sich die Zahl der Herzinfarkt-Toten in den letzten Jahren aber deutlich reduziert, so starben im Jahr 2000 noch 67.000 Patienten (statt ca. 45.000 derzeit) an einem akuten Herzinfarkt. Diese erfreuliche Entwicklung hat sicher auch mit den besseren Therapie- und Interventionsmöglichkeiten zu tun, die ständig weiterentwickelt werden. Dennoch: auch wenn diese erfreuliche Entwicklung zeigt, dass präventive Maßnahmen und verbesserte Behandlungsmöglichkeiten wirken, liegt bei 45.000 Toten durch akute Herzinfarkte noch viel Arbeit vor uns.
Schlaganfälle: Hier kommt es zu einer Minderversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, oder zu einer Blutung in das Gehirn, etwa durch einen deutlich zu hohen Blutdruck. Pro Jahr erleiden in Deutschland ca. 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Durch den demographischen Wandel steigt diese Zahl langsam an. Im Jahr 2022 starben ca. 55.000 Menschen direkt an oder an den Folgen eines Schlaganfalls. Ähnlich wie beim Herzinfarkt ist die Zahl der Menschen, die an einem Schlagfall versterben aber seit Jahren eher rückläufig. Gut erkennbar ist an den Zahlen in Nordrhein Westfalen und der Stadt Köln (Quelle: Statistische Landesamt). Während im Jahr 2012 noch 12.198 Menschen an einem Schlaganfall in NRW verstarben, waren es im Jahr 2022 trotz gestiegener Gesamtfallzahlen ‚nur‘ noch 10.402 Menschen. Auch in der Stadt Köln mit ca. 4000 Schlaganfällen im Jahr sank die Zahl der Menschen, die an einem Schalfanfall verstarben von 537 Fällen im Jahr 2012 auf 447 im Jahr 2022. Die Stadt Köln wieß übrigens mit 41,4 / je 100.000 Einwohner, die niedrigste Sterbequote an Schlaganfällen in ganz NRW auf (der schlechteste Bezirk wieß eine Quote von 82,7 auf). Anders als beim Herzinfarkt ist der Anteil der Frauen übrigens höher. Auch hier sind Zahlen erfreulich und offensichtlich dem Einrichten von Stroke Units und einer verbesserten Prävention von vaskulären Risikofaktoren, die wir oben besprochen haben und der verbesserten Behandlung von Herzrhythmusstörungen geschuldet. Dennoch bleibt auch hier viel Luft nach oben.
Die allerwichtigste Botschaft für uns, die an Langlebigkeit interessiert sind ist aber: die Prävention von Herzkreislauferkrankungen macht großen Sinn. Die Erfolge der Prävention in den letzten Jahren lassen sich in den Statistiken gut nachweisen und können im Einzelfall noch wesentlich wirksamer sein.
3. Krebserkrankungen
wir haben bereits am Anfang dieses Kapitels die Sterbedaten des statistischen Bundesamtes kennengelernt. Krebserkrankungen sind die zweit häufigste Todesursache in unserem Land, aber meist auch in anderen westlichen Ländern. Wir haben bereits in Kapitel II (Buch: Longevity-Kompass) gelernt, dass die Entstehung von Krebserkrankungen leider auch mit unseren Alterungsprozessen zu tun hat. Je ungenauer unsere epigenetischen Reparaturmechanismen, desto höher das Risiko.
Aber auch wenn Krebserkrankungen durch genetische Veranlagung begünstigt oder in seltenen Fällen bei sehr ungünstigen genetischen Konstellationen schon in frühen Lebensjahren auftreten können, sind viele Krebsarten durch unseren Lebensstil bedingt, zumindest begünstigt. Das klassische Beispiel ist sicher das Bronchialkarzinom (die häufigste Form des Lungenkrebses), das in über 90 % der Fälle durch Rauchen hervorgerufen wird. Rauchen schädigt allerdings nicht nur das Lungengewebe und verursacht hier direkt lokale Reaktionen, sondern führt auch, wie wir bereits in Kapitel II (Buch: Longevity-Kompass) besprochen haben, zu einer vermehrten die genomische Instabilität vieler unterschiedlicher Zellen und beschleunigt über verschiedene molekulare Mechanismen weitere Alterungsprozesse, wodurch genetische Reparaturmechanismen reduziert werden, womit sekundär die Entstehung auch anderer Krebsarten begünstigt wird. Damit müssen einige Krebsarten auch den modernen Zivilisationskrankheiten zugerechnet werden und sind komplett vermeidbar.
Dennoch spielt unsere genetische Grundausstattung eine wesentliche Rolle dabei, ob wir im Leben an Krebs erkranken oder verschont bleiben. Nur wenige Menschen wie unser Altkanzler Helmut Schmidt, der 60 Jahre täglich eine Schachtel Menthol-Zigaretten rauchte, haben das Glück, trotz ihrer Lebensweise, aufgrund ihrer günstigen genetischen Grundausstattung nicht zu erkranken und knapp 100 Jahre alt zu werden.
Wir schauen uns kurz die häufigsten Krebsarten in Deutschland an, um zu verstehen wie und warum wir gefährdet sind wie wir sinnvolle Strategien entwickeln können um uns so gut es geht zu schützen. Der Vollständigkeit-halber sein erwähnt, dass natürlich Dutzende weiterer Krebsformen gibt, die aber zum Teil viel seltener sind. Wir erkennen auf den ersten Blick, dass Krebs teilweise geschlechtsabhängig ist und natürlich auch mit geschlechts-spezifischen Lebensgegebenheiten zu tun hat:
Die häufigsten Krebsarten des Mannes sind in Deutschland:
- Prostatakrebs (> 60.000 / Jahr)
- Lungenkrebs (> 35.000 / Jahr)
- Darmkrebs (> 30.000 / Jahr)
- Harnblasenkrebs (> 60.000 / Jahr)
- Maligne Melanome der Haut (> 12.000 / Jahr)
- Non-Hodgkin-Lymphome (> 10.000 / Jahr)
- Krebs von Mundhöhle und Rachen (> 9.500 / Jahr)
- Bauchspeicheldrüsenkrebs (9.000 / Jahr)
- Nierenkrebs (> 9.000 / Jahr)
- Magenkrebs (> 9.000 / Jahr)
Die häufigsten Krebsarten der Frau sind in Deutschland:
- Brustkrebs (> 70.000 / Jahr)
- Lungenkrebs (> 25.000 / Jahr)
- Darmkrebs (> 20.000 / Jahr)
- Gebährmutterkörperkrebs (> 10.000 / Jahr)
- Maligne Melanome der Haut (> 11.000 / Jahr)
- Bauchspeicheldrüsenkrebs (9.000 / Jahr)
- Non-Hodgkin-Lymphome (> 8.000 / Jahr)
- Krebs der Ovarien und Adnexe (> 7.000 / Jahr)
- Magenkrebs (> 5.000 / Jahr)
- Nierenkrebs (> 5.000 / Jahr)
Wichtig ist zu wissen, dass sich dieses Verteilungsmuster nicht immer so dargestellt hat wie wir es heute sehen. Das Prostata-Karzinom des Mannes hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was sowohl mit der erhöhten Lebenserwartung als auch mit der verbesserten Diagnostik zu tun hat. Deutlich zugenommen hat auch das Maligne Melanom der Haut, während einige Krebsarten wie der Magenkrebs eher rückläufig sind. Bei den Frauen ist mit dem Brustkrebs ebenfalls ein geschlechtsspezifischer Krebs der bei weitem häufigste Krebs. Traurige Wahrheit ist hier, dass der Lungenkrebs, der sich bei den Männern in den letzten Jahren hinsichtlich der Häufigkeit nicht wesentlich verändert hat, bei den Frauen leider deutlich zugenommen hat und der inzwischen zweithäufigste Krebs ist – am ehesten als trauriges Zeichen der Emanzipation beim Rauchen.
Es überrascht wahrscheinlich nicht, dass die Häufigkeit der Krebsarten nicht mit der Prognose der Krebsarten korreliert. Denn schlechte Prognosen, haben insbesondere die Krebsformen, die unauffällig wachsen, zu Beginn kaum Symptome verursachen und daher relativ spät erkannt werden. Auch die Krebsarten, die biologisch noch nicht gut charakterisiert sind und bei denen es daher keine oder nur wenige spezifisch wirksame Medikamente gibt, haben meist eine eher schlechte Prognose. Das Prostata-Karzinom der Männer wird meist relativ früh entdeckt und ist inzwischen gut behandelbar. Die Sterblichkeit ist daher vergleichsweise niedrig, so dass die 5-Jahres-Überlebensrate bei 91% liegt. Anders sieht es beim Lungenkrebs aus, der oft erst spät entdeckt wird, weil er vergleichsweise wenig oder erst spät Symptome macht. Auch wenn sich hier die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren deutlich verbessert haben, liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei Frauen gerade mal bei 25% und bei Männer sogar nur 19%. Auch bim dritthäufigsten Krebs des Mannes, dem Darmkrebs kommt es ganz darauf an wann der Krebs entdeckt wird. Hier liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei Frauen bei 66% und bei Männer bei 64%. Wird der Tumor sehr früh entdeckt, zum Beispiel im Rahmen einer Darmspiegelung ist auch eine komplette Heilung möglich.
Bei dem häufigsten Krebs der Frau, dem Brustkrebs hat sich erfreulicherweise in den letzten Jahren auch viel getan und sind die Therapiemöglichkeiten deutlich besser geworden. Allerdings kommt es auch hier einmal mehr darauf an, den Krebs früh zu erkennen. Entscheidend ist dann ferner die Biologie des Karzinoms. Während die Hormon-sensitiven Formen eine relativ gute Prognose haben (5-Jahres-Überlebensrate >90%), sind die Hormon-negative Formen (sog. Trippel-negative Formen) weiterhin therapeutisch schwieriger. Aber dennoch habe sich auch hier die Aussichten in den letzten Jahren verbessert mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von ca. 75%.
Deutlich angestiegen sind übrigens auch die bösartigen Hautkrebsarten, insbesondere das maligne Melanom. Bis vor wenigen Jahren war die Diagnose ein Todesurteil, seit einigen Jahren läßt sich ein Malignes Melanom aber auch relativ gut behandeln, wenn es rechtzeitig entdeckt wird. Der beste Schutz bleibt also die Prävention mit viel Sonnencreme in die Sonne, selbst in unseren Breitengraden und regelmäßigen Routineuntersuchungen beim Hautarzt ab einem Alter von ca. 50 Jahren.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass Krebserkrankungen zwar die zweit häufigste Todesursache in Deutschland sind, wir uns aber grundsätzlich relativ gut vor ihnen schützen können. Die Lifestyle-bedingten Krebsarten wir Lungenkrebs und maligne Melanome können wir mit einfachen Massnahmen vermeiden. Andere Formen wie Prostata-Krebs, Brustkrebs oder Darmkrebs müssen wir durch Vorsorgeuntersuchungen ab einem bestimmten Alter versuchen früh zu erkennen. Auf die Details einer guten Prävention kommen wir nochmal ausführlicher in Kapitel VI.7. (Buch: Longevity-Kompass) zu sprechen.
4. Dementielle und neurodegenerative Erkrankungen
Die Medizin hat in den letzten 50 Jahren dramatische Fortschritte gemacht. Wir können theoretisch die meisten Körperteile einfach austauschen, wenn sie gar nicht mehr funktionieren. So wurden im Jahr 2023 in Deutschland ca. 200.000 neue Hüften, und 145.000 neue Knie eingebaut sowie 1500 Nieren, 740 Lebern und 350 Herzen transplantiert. Aber bei einem Organ wird das wahrscheinlich nie klappen: unserem Gehirn. Es ist und bleibt individuell einzigartig, es ist der Sitz unseres Bewußtseins, unseres Ichs, unserer Persönlichkeit, die geprägt wurde von allen schönen, traurigen und traumatischen Erlebnissen, Dingen, die wir gelesen, gehört, gesehen oder auch schon wieder vergessen haben. Um so unverständlicher ist, dass wir es nicht besser pflegen und vor Erkrankungen und Abnutzungen schützen. Wer Literatur zu gesunder Haut, Haaren, oder Fingernägeln sucht, wird schnell tonnenweise auf Informationen stoßen, wer etwas über Gehirngesundheit sucht, wird kaum etwas finden. Dabei ist das Gehirn relativ empfindlich, schon wenige Sekunden ohne Sauerstoff oder Blutzufuhr verursachen einen Bewußtseinsverlust, Minuten ohne Sauerstoff bereits irreversible Schäden. Zehn Minuten ohne Sauerstoff sind mit einem Weiterleben kaum vereinbar.
Wir haben oben bereits im Anschnitt 1 und 2 über Herzkreislauf-Erkrankungen gesprochen, Bluthochdruck, Typ 2-Diabetes, Fettstoffwechselerkrankungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle. Alle wesentlichen Risikofaktoren für diese Erkrankungen schädigen, auch wenn es nicht direkt zu einem Schlaganfall kommt, dauerhaft das Gehirn. Zur Illustration hier die Kernspintomographien von zwei Männern im Alter von 75 und 80. Gut erkennbar die Spuren von unbehandelten Risikofaktoren, insbesondere gut im linken Bild erkennbar ein über Jahre schlecht eingestellter Bluthochdruck sowie eine unbehandelte Fettstoffwechselstörung.
Abb. 2: Kernspintomographien des Kopfes mit sog. FLAIR-Sequenzen. Links Gehirn eines 80 jährigen Patienten mit ausgeprägten vaskulären Risikofaktoren und umfangreichen Ablagerungen (weiß) sowie Schrumpfung der Gehirnmasse sowie kognitiven Einbußen. Rechts 75 jähriger sonst gesunder Patient ohne vaskuläre Risikofaktoren, kognitiv unauffällig.
Diese vaskulären Risikofaktoren können über die Jahre hinweg zu leichten kognitiven Einschränkungen, im weiteren Verlauf aber auch zu einer vaskulären Demenz führen. Neben der Demenz vom Alzheimertyp ist die vaskuläre Demenz eine der häufigsten Demenz-Formen insgesamt. Nicht selten liegen auch Mischtypen vor, sodass eine Demenz vom Alzheimertyp von vaskulären Risikofaktoren überlagert wird und sich damit sogar schneller verschlechtert. Wie bereits oben besprochen, sind wie beim Herzinfarkt oder auch Schlaganfall die Folgen von vaskulären Risikofaktoren für das Gehirn vermeidbar. Mit anderen Worten die Entwicklung einer vaskulären Demenz wird zwar durch spezielle genetische Faktoren begünstigt, ist ansonsten aber vermeidbar, zumindest über Jahre hinweg aufschiebbar. Man muss sich daher immer wieder klarmachen, dass Risikofaktoren, die das Herz schädigen oder eine koronare Herzerkrankung verursachen nicht spurlos am Gehirn vorbeigehen. Zwar ist das Gehirn durch eine sogenannte ‚Bluthirnschranke‘ noch einmal etwas besser vor ungebetenen oder infektiösen Bestandteilen des Blutes geschützt, aber viele Substanzen, Nahrungsmittel und damit auch Fette, insbesondere gesättigte Fettsäuren, Alkohol und vieles mehr, fließen als Bestandteile des Blutes durch unser Gehirn, können sich dort ablagern und es potenziell schädigen.
Während wir also die Demenz vom vaskulären Typ relativ gut präventiv verhindern können, sind andere Demenzformen im Hinblick auf mögliche präventive Maßnahmen schwerer zu beherrschen. Allerdings besteht hier Hoffnung, dass in naher Zukunft deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, uns vor Demenzen wie der vom Alzheimertyp zu schützen. So ist es heute bereits möglich durch eine nuklearmedizinische Untersuchung die typischen Amyloid-Ablagerungen, die für eine Alzheimer Demenz charakteristisch sind, bereits 15-20 Jahre vor Auftreten erster Symptome sichtbar zu machen. Da während der Abfassung dieses Manuskript die ersten monoklonalen Antikörper gegen Amyloidablagerungen bereits in den USA zugelassen sind, könnte es bereits in naher Zukunft Sinn machen diese Untersuchungen durchzuführen, insbesondere dann, wenn eine familiäre Veranlagung besteht, um rechtzeitig mit einer Therapie zu starten, die den Ausbruch der Erkrankung möglicherweise komplett verhindert. Über weitere Strategien zur Stärkung der kognitiven Leistungsfähigkeit sowie lebenslangem Lernen als Konzept kommen wir noch in Kapitel VII.7 (Buch: Longevity-Kompass) zu sprechen.
5. Gebrechlichkeit, Sarkopenie und sekundäre Folgen der Immobilität
Wir kommen jetzt zu einem Komplex, der eigentlich alle Menschen früher oder später betrifft, aber in der Sterbestatistik des Statistischen Bundesamtes oder auch der WHO gar nicht vorkommt. Denn Gebrechlichkeit gilt bisher nicht als Erkrankung, sondern eher als natürlicher Bestandteil des Alterns. Neu seit einigen Jahren ist jedoch der Begriff der Sarkopenie, des krankhaften Muskelschwunds im Rahmen der Alterns. Es war daher ein Meilenstein, dass die Sarkopenie als häufiger Bestandteil des Alterungsprozesses und Ausdruck einer zunehmenden Gebrechlichkeit 2016 in die internationale Klassifikation der Erkrankungen (ICD 10= International Classification of Diseases, 10. Fassung) aufgenommen wurde. Damit wird die Behandlung eines altersbedingten Muskelschwundes und zunehmende Gebrechlichkeit als Diagnose auch eine Krankenkassen-pflichtige Leistung. Denn sofern wir nicht an einer Herzkreislauf-Erkrankung, einem Krebsleiden oder einer neurologischen Erkrankung versterben, haben wir eine sehr gute Chance an den Folgen zunehmender Gebrechlichkeit und der damit verbundenen Immobilität zu versterben, wie einer Lungenembolie, Lungenentzündungen, Stürzen mit Frakturen, Urogenitalinfekten und vielem mehr. Diese sekundären Effekte der Gebrechlichkeit finden sich zwar in vielen anderen Unterpunkten der Sterbestatistik wieder, aber lenken damit von den eigentlichen kausalen Mechanismen ab: zunehmender Gebrechlichkeit, Muskelschwund, Immobilität.
Damit kommen wir zu dem vielleicht am meisten unterschätzten und zu wenig beachteten Organ unseres Körpers: unserer Muskulatur. Sie läßt uns im Vergleich zu anderen Tieren komplexe Bewegungsmuster ausführen, sie schützt uns mechanisch, wächst wenn sie trainiert wird und schüttet eine Vielzahl von Gewebshormonen und Botenstoffe aus, die Schmerz-lindernd wirken und uns vor vielen weiteren Krankheiten schützen. So altmodisch der Spruch ‚wer rastet, der rostet‘ auch klingen mag, er bringt die Sache auf den Punkt.
Was häufig übersehen und unterschätzt wird ist, wie sehr unsere Muskulatur am allgemeinen Stoffwechsel beteiligt ist. Eine australische Verlaufsstudie an Jugendlichen, die über 20 Jahre in ihr Erwachsenenleben begleitet wurden, konnten eindeutig einen Zusammenhang zwischen Muskelmasse und späterem Auftreten von Diabetes Typ 2 und Metabolischen Syndromen (Übergewicht, hohe Fettwerte, Diabetes, Bluthochdruck) nachweisen. So hatten Jugendliche mit einem geringen Muskelmassen ein fast 10fach erhöhtes Risiko im Laufe ihres jungen Erwachsenenlebens ausgeprägte vaskuläre Risikofaktoren zu entwickeln im Vergleich zu Jugendlichen, die eine gute Muskelmasse aufwiesen. Diese Erkenntnisse gelten natürlich auch für Erwachsene.
Wenig Berücksichtigung findet auch die Tatsache, dass sich bereits ab dem 30 Lebensjahr ca. 0,3-1% unserer Muskelmasse zurückbildet und sich überwiegend in Fettgewebe umbaut, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Das mag nicht viel klingen, ist über die Jahre aber relativ dramatisch, denn bereits im Alter zwischen 70 und 80Jahren kann die Muskelmasse dann bereits um 50% abgenommen haben. Und dies ist möglicherweise der Startschuss für eine sich dann über wenige Jahre entwickelnde Gebrechlichkeit, mit erhöhter Neigung zur Osteoporose (Knochenschwund), erhöhter Frakturgefahr, Immobilität und der Sarkopenie – dem dann krankhaften Verlust weiterer Muskelanteile. Nicht selten wird der Weg in die Sarkopenie noch durch eine unzureichende oder falsche Ernährung unterstützt. Denn wenn Muskeln erhalten werden oder auch neu aufgebaut werden sollen, benötigt der Organismus einen höheren Proteinanteil in der Nahrung. Aber gerade Proteine werden von vielen Menschen mit zunehmenden Alter weniger eingenommen oder sogar gemieden.
In den letzten Jahren haben bereits mehrere Studien an Menschen im Alter über 60 Jahren den Zusammenhang von Muskelmasse und Sterbewahrscheinlichkeit untersucht. Alle Studien kommen zum gleichen Ergebnis: Die Muskelmasse korreliert negativ mit der Mortalität und Letalität. Mit anderen Worten: je niedriger meine Muskelmasse im Alter, desto höher die Wahrscheinlichkeit typische Alterserkrankungen zu erleiden und daran zu versterben. Diese Zusammenhänge werden nicht nur von vielen Menschen, sondern leider auch von vielen Mediziner in der Betreuung älterer Menschen nicht ausreichend gewürdigt. Die gute Nachricht ist jedoch, dass dieser Verlust an Muskelmasse behandelbar ist. Einige Studien konnten überzeugend zeigen, dass das Alter beim Training von Muskeln nur eine relative Rolle spielt. Zwar nimmt der Trainingseffekt und die Belastbarkeit mit dem Alter ab, dennoch können Muskeln auch im hohen und höchsten Alter gut trainiert werden. Und je besser der Trainingszustand, desto besser auch die Möglichkeit zu üben und die sich daraus ergebenden Übungseffekte. Das Damoklesschwert einer Sarkopenie, also der krankhafte Verlust an Muskelmasse mit den bereits diskutierten Konsequenzen ist also in den meisten Fällen durch rechtzeitiges Training komplett vermeidbar. Über einfache und sinnvolle Übungsmaßnahmen berichten wir noch später in Kapitel VII.1 (Buch: Longevity-Kompass). Führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Muskelforschung, wie der Kölner Sportwissenschaftler Prof. Ingo Frohböse, der sich viele Jahre an der Sporthochschule Köln mit dem Stoffwechsel von Muskeln beschäftigt hat, fordern inzwischen, dass mit zunehmendem Alter auch intensiver trainiert werden müsse. Er favorisiert dabei eine Mischung aus regelmäßigem Ausdauertraining und auch Krafttraining bis ins höchste Alter.
Zusammenfassend müssen wir feststellen, dass wir sehr häufig ein wichtiges Organ unseres Körpers vernachlässigen: unsere Muskeln. Wir müssen auch feststellen, dass für die meisten von uns die Bewegungen des Alltags spätestens ab einem Alter von etwa 50 Jahren nicht mehr ausreichen um eine gesunde Muskelmasse mit ins hohe Alter zu nehmen. Ein regelmäßiges Training, insbesondere auch Krafttraining im Alter und im höchsten Alter in Verbindung mit einer gesunden, ausgewogenen, partiell auch Protein-reichen Ernährung sind die beste Voraussetzung um körperlich gesund zu bleiben, Gebrechlichkeit zu vermeiden und mit hoher Lebensqualität alt zu werden.